Bildungsbürger, ich liebe dich. Wirklich. Dabei hast du es nicht leicht im Leben. Die alte Garde schimpft dich als Emporkömmling und macht sich über deinen „fehlenden Schliff“ lustig und die Proleten halten dich für vollkommen abgehoben mit deinem befremdlichen Wunsch nach einem höheren Standard. Auch viele deiner Zeitgenossen, die nicht in eins dieser Lager fallen, betrachten dich mit erhobener Augenbraue und wundern sich. Nur ein anderer Bildungsbürger versteht dich und deine Leiden wirklich.
Doch leider bist du so selten geworden in der neuen Zeit. Einerseits ist Niveau heute zum Schimpfwort geworden. Was willst du auch nach höherem Streben, wenn der Boden doch so nahe ist? Bist du gar ein Subversiver, wo doch heute nur noch auf das Podest gestellt wird, wer die meisten Fehler hat? Sei so wie du bist, nicht so, wie du sein könntest ist doch heute die Devise.
Überhaupt gibt es doch heute so viel Zeug, mit dem man sein Leben aufs trefflichste Verschwenden kann. Dank der digitalen Technik braucht man nicht einmal mehr andere Menschen dafür. Wer nimmt schon ein Buch in die Hand, wenn es so viele Filme, Serien, Videospiele gibt. Ausser dir?
Doch bitte, bitte, komm zurück! Ich schätze dich so sehr. Mit dir kann ich philosophieren, für dich sind Goethe, Schiller und Mozart nicht nur Straßennamen. Du kennst so viele Worte und weißt, Sie treffsicher einzusetzen wie ein Fechter sein Schwert. Du tust, was richtig ist und nicht, was grade angenehm. Charakter ist für dich nicht nur ein Wort. Und denken tust du selbst, statt deine Meinung dir von irgendwelchen Medien einflüstern zu lassen. Mit dir, da darf man Mensch sein.
Wie gerne möchte ich mit dir den Abend verbringen, denn Buch, Schach und Gespräch klingt auch für mich verführerischer als Netflix and Chill.
Ja, du trägst eine hohe Last auf deinen Schultern, denn du wolltest immer mehr sein. Arbeitest hart und beständig daran, die beste Version deiner selbst zu werden. Doch ach, wie schwer ist es, wenn kein Mentor da ist, der einen führt, all die kleinen und großen Geheimnisse des höheren Standards selbst entdecken zu müssen. Wie kann dir manch erhabener Mensch nur vorwerfen, in manchen Details ungeschliffen zu sein, wenn du selbst der Stein und der Bildhauer zugleich sein musst?
Stattdessen greifst du zu Büchern, willst begierig von den alten Ahnen lernen.
Du bist nicht so abgehoben, so verschwenderisch wie die „schönen und Reichen“, denn du blickst auf keinen herab. Andererseits bist du gebildeter als der Neureiche, charakterlich stärker als manch einfacher Mensch. Du hast noch die Herzlichkeit des einfachen Mannes, doch die Bildung eines Adeligen. So viel Gutes vereinst du auf dich, da verzeiht man dir manch unrunden Schliff doch gerne!
Und jeden lässt du dankbar und freudig in deine Reihen, wenn er nur gewillt ist, sich zu bilden.
Nur wer billigem Genuss dem Wissen vorzieht, mit dem kannst du nicht. Du kennst diese Genussmenschen nur zu gut. Jene, für die der Spaß mehr zählt als gute, alte Werte. Es stört dich nicht, wie Sie Leben. Aber es ist nichts für dich, denn du kennst den Schatz, der im Schatten jenes schmalen Pfades liegt, den du beschreitest. Ein glückliches, erfülltes Leben. Eudaimonia, wenn du die alten Griechen schon gelesen hast. Die anderen müssen dich nicht verstehen, wenn du deinen Weg gehst. Doch reichst du gerne deine Hand zur Hilfe jedem, der mit dir auf dem Pfad wandeln will.
Gerade wandeln ist das richtige Wort, denn du verwandelst dich, streifst deine alte Hülle ab und erkennst am Ende, dass du aus einer Raupe zum Schmetterling wurdest.
Schon in deinem Namen steht es fest geschrieben. Bildungsbürger. Du bist ein einfacher Bürger gewesen, wie jeder andere auch, doch hast du dich gebildet, hast dir eine neue Form gegeben wie ein Kunstwerk sich aus dem Marmorblock befreit. So strebst du danach, mehr zu sein.
Ach, wären doch nur mehr wie du!